Samstag, 25. Oktober 2008

Freiburg: Wenn die Politik versagt, gehen die Bürger auf die Strasse

Absolut großartige Aktion in Freiburg: Ein Lehrer steht am Samstag morgen bei strahlendem Sonnenschein auf dem Freiburger Marktplatz und erklärt an einer großen Tafel (so eine richtige Tafel, mit Kreide und Schwamm!): Mathematik. Wie stellt man beispielsweise fest, ob eine grosse Zahl durch 7 teilbar ist? Mit ein paar Tricks und Kniffen, hier schnell was kürzen und dort was wegstreichen, es geht ziemlich flott, -4 ist von +3 ja auch genau 7 entfernt, aha! "Was glauben Sie, ist eine Million glatt durch 7 teilbar?" fragt der Lehrer in die Menge. "Jahr der Mathematik" steht auf dem einen Schild neben der Tafel, und auf dem anderen steht, herrlich handgemalt-statt-desktopgepublisht: "In Dir steckt mehr Mathe als du glaubst!". Bei 9° und strahlendem Sonnenschein ist der Lehrer auf dem Freiburger Münstermarkt, vorsichtig formuliert, nicht ganz alleine, die Leute sind begeistert.

Gegenszenario aus Dresden: Mitte der Woche hat Frau Merkel ihren Bildungsgipfel vor die Wand gefahren, keiner weiß so genau was denn nun eigentlich geschieht, es gehe wohl erst "nach der Wahl" weiter, heisst es. WIE BITTE? Die Wahl zum Bundestag ist erst kommenden Herbst! In einem Jahr! Wie Frau Merkel das Land mit der "Einrichtung einer Strategiegruppe" und losen Absichtserklärungen aus Bildungsnotstand und Fachkräftemangel herauszuführen gedenkt, ist mir schleierhaft. Offenbar gehört es zu ihrem Bildungsprogramm, bereits nach drei Jahren die Arbeit einzustellen und ein Jahr lang auf die nächste Wahl zu warten. Einstweilen eröffnen in Indien sechs weitere "Indian Institutes of Technology", und Tata Consultancy Services, Indiens größter IT-Services-Anbieter, bläst zum Sturm auf Deutschland. Die Ukraine kommt ganz groß raus und etabliert sich als Alternative zu asiatischen IT-Destinationen. Bei uns hingegen bleiben 45.000 Stellen in der IT-Branche unbesetzt, weil vor Ort keine qualifizierten Fachkräfte gefunden werden können. Und in Freiburg stehen die Leute auf der Strasse und lernen Mathe.

Der Lehrer kommt zum Finale Furioso: Sehen Sie hier, das übertragen wir, könnenwa hier streichen, bleiben gerade 7 übrig – Klammer zu, Rest 1! Bei der Million bleibt gerade 1 übrig, 999.999 wäre durch 7 teilbar gewesen. Könnse mir glauben, hammse ja eben gesehen, das ist Mathematik, strahlt der Lehrer. Großer Applaus!

Schade, dass es nicht mehr Lehrer gibt, die sich Samstag morgens auf die Strasse stellen. Schade, daß deutsche Lehrer in ihrem Kontext aus mangelhafter Bezahlung, mässigen Arbeitsbedingungen und geringer Anerkennung normalerweise höchst verständlicherweise kaum die Energie und die Lust aufbringen können, sich in der Freizeit hinzustellen und für Bildung zu werben! Schade, dass die Regierung es offenbar immer noch nicht begriffen hat, dass wir hier in Deutschland nur eine einzige Chance haben, uns in der globalisierten Welt zu behaupten: Durch deutsche Ingenieurskunst, durch Forschung und Innovation, durch Aufbau und Förderung Wissens-intensiver Branchen, durch Bildung! Frau Merkel, verschonen Sie uns mit ihren Strategiegruppen! Sorgen Sie lieber für Lehrer, viele Lehrer! Wir brauchen sie dringend!